Karlheinz Niclauß

 

Das Amt des Bundespräsidenten im Parlamentarischen Rat, in: Robert Chr.van Ooyen, Martin H.W. Möllers (Hrsg.) Der Bundespräsident im politischen System, Wiesbaden 2012, S.35-45

Manuskriptfassung

 

1. Auf Distanz zur Weimarer Republik

 

Die deutschen Politiker der Nachkriegsjahre von 1945 bis 1949 waren bestrebt, den von den Besatzungsmächten gewährten Demokratieaufbau mit den Mitteln der Verfassung zu stabilisieren. Sie gingen dabei von der Überlegung aus, die Konstruktion der Weimarer Reichsverfassung sei ein maßgebender Grund für das Scheitern der Weimarer Republik und für die Machtergreifung der Nationalsozialisten gewesen. Eine Neuorganisation des Regierungssystems sollte das Fundament für der zweite, zunächst auf Westdeutschland begrenzte Demokratie bilden. Andere Fundamente schienen in der oberflächlich entnazifizierten Mitläufergesellschaft der Nachkriegssituation nicht zur Verfügung zu stehen. Während bei den Beratungen über die Grundrechte ein deutlicher Trennungsstrich zum „Dritten Reich“ gezogen wurde, sind die organisatorischen Bestimmungen des Grundgesetzes als Gegenverfassung zur Weimarer Reichverfassung zu verstehen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren bemüht, durch eine Neu­ordnung der Staatsorgane, ihrer Kompetenzen und ihres Zusammenspiels das Regierungssystem zu verbessern. Die zukünftige Demokratie sollte sich auf klare Verfassungsregeln stützen können, weil – wie der Sozialdemokrat Rudolf Katz im Parlamentarischen Rat erklärte – „hinter der Krise des demokratischen Systems der Diktator lauert“[1].

 

Die Nachkriegspolitiker hatten bei ihren Vorschlägen zur Verbesserung des Regierungssystems vor allem die Schlussphase der Wei­marer Demokratie vor Augen. Ihr Interesse an diesem folgenschweren Abschnitt der deutschen Geschichte ist  auch darauf zurückzuführen, dass sie diesen Zeitraum aus eige­ner Anschauung erlebt hatten und in der Regel bereits damals verantwortliche Positionen in Parlamenten, Verwaltung oder Wissenschaft innehatten. Der Übergang zum Präsidialsystem, das schließlich die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ermöglichte, war aus ihrer Sicht auf verfassungspolitische Mängel zurückzuführen, die beim Aufbau der zweiten deutschen Republik auf jeden Fall zu vermeiden waren. Die Position des Präsidenten im zukünftigen Verfassungssystem spielte deshalb bei ihren Überlegungen eine große Rolle. Das Präsidentenamt ist deshalb als der Bereich des Grundgesetzes anzusehen, bei dem der Unterschied zur Weimarer Verfassungskonstruktion besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Friedrich Karl Fromme bezeichnet in seiner immer noch grundlegenden Studie das Amt des Staatsoberhaupts als tertium comparationis (Vergleichspunkt) der parlamentarischen Systeme von Bonn und Weimar[2].

 

Welche Konsequenzen die westdeutschen Politiker aus den Weimarer Erfahrungen ableiteten, wurde bereits auf dem Verfasssungskonvent von Herrenchiemsee deutlich, den die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder im August 1948 zur Vorbereitung der Grundgesetzberatungen einberiefen: Der zukünftige Bundespräsident sollte nach den Vorstellungen der Konventsmehrheit nicht vom Volk, sondern von Bundestag und Bundesrat mit einem „übereinstimmenden Beschluss“ gewählt werden. Seine Amtszeit wurde auf fünf Jahre begrenzt mit der Möglichkeit einer einmaligen anschließenden Wiederwahl. Der Präsident verlor außerdem das Notverordnungsrecht und das Recht des Bundeszwangs (Reichsexekution), die nach dem Entwurf des Konvents beide auf die Regierung übergingen, sowie sein Recht, über Gesetze eine Volksabstimmung herbeizuführen. Bei der Regierungsbildung gestand man ihm nur noch ein aufschiebendes Veto gegen den vom Bundestag „benannten“ Kanzler zu. Das Recht des Präsidenten zur Parlamentsauflösung sollte nur bestehen, falls der Bundestag bei der Regierungsbildung versagt.

 

Der Parlamentarische Rat folgte diesem Entwurf mit leichten Veränderungen: Die Wahl des Bundespräsidenten erfolgt durch eine eigens hierfür einberufene Bundesversammlung. Statt des Vetos bei der Kanzlerwahl erhielt der Bundesspräsident das Vorschlagsrecht für den ersten Wahlgang. Sein Auflösungsrecht wurde um eine zweite Möglichkeit erweitert. Die Neufassung des Präsidentenamts lässt die Absicht des Parlamentarischen Rates erkennen, die Regierung des Bundeskanzlers zu stärken und das Parteienparlament zur Verantwortlichkeit zu zwingen. Während der Weimarer Reichspräsident aufgrund seiner Machtbefugnisse die Position des „Ersatzkaisers“ einnahm, orientierte sich der Parlamentarische Rat bei der Festlegung der Kompetenzen des Staatsoberhaupts am Vorbild der konstitutionellen Monarchie. Erhard H. M. Lange weist darauf hin, dass die repräsentative und integrierende Rolle des Präsidenten auch von der Integrationslehre Rudolf Smends beeinflusst wurde. Smends Überlegungen zur persönlichen Integration waren Carlo Schmid (SPD) und anderen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates vertraut[3].

 

Da die Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik im wesentlichen unbestritten waren, gehört das Amt des Bundespräsidenten zum Konsensusbereich der Grundgesetzberatungen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die Beratungen hierzu doch nicht so harmonisch verliefen, wie man angesichts der deutlichen Distanzierung vom Weimarer Präsidentenamt vermutet. Die Kontroversen ergaben sich allerdings nicht aus dem Rückblick auf Weimar, sondern aus der Nachkriegssituation Deutschlands und den zur Zeit der Grundgesetzberatungen bereits etablierten Interessen. Anlass zur Diskussion boten die Wahl des Bundespräsidenten, seine Rolle bei der Regierungsbildung und bei der Parlamentsauflösung sowie die Frage, ob ein Bundespräsident überhaupt notwendig sei.

 

 

 

2. Ein Grundgesetz ohne Präsidentenamt?

 

Bereits im Konvent von Herrenchiemsee wurde die Frage gestellt, ob der Präsident nicht entbehrlich sei. Die dort anwesenden Sozialdemokraten bezweifelten den Sinn des Präsidentenamts für eine provisorische westdeutsche Teilverfassung. Der Vertreter des Landes Hessen, Hermann Brill (SPD), erklärte bei den Beratungen: „Einen Bundespräsidenten halte ich schlechterdings für entbehrlich . . . Ich sehe nicht ein, warum wir in einer staatlichen Ordnung, die hoffentlich nur zwei oder drei Jahre dauert, uns mit einem solchen Requisit versehen sollten“[4]. Carlo Schmid (SPD), der sowohl auf Herrenchiemsee als auch im Parlamentarischen Rat eine maßgebende Rolle spielte, vertrat mit seinem „Staatsfragment“ eine intellektuell und juristisch besonders anspruchsvolle Variante der Provisoriumsthese. Sein Grundgedanke war, wegen der Anwesenheit der Besatzungsmächte und der deutschen Teilung verfüge das deutsche Volk nicht über die volle Souveränität einen Staat zu gründen. Die Volkssouveränität sei  von den Besatzungsmächten inzwischen zwar „stückweise“ wieder frei gegeben, aber immer noch teilweise gesperrt[5]. Möglich sei deshalb nur ein Staatsfragment mit einem Organisationsstatut statt einer Verfassung. Eine Minderheit des Konvents von Herrenchiemsee war dementsprechend der Auffassung, man solle die Aufgaben des Präsidenten einem Präsidium, bestehend aus Bundeskanzler, Bundestags- und Bundesratspräsident, übertragen. Die Mehrheit des Konvents zeigte sich allerdings bereit, das von ihr befürwortete Präsidentenamt „wegen der Beschränkung des neuen Gebildes auf die westlichen Besatzungszonen sowie im Hinblick auf die gegenwärtige Form der Besatzungsherrschaft vorerst nicht zu besetzen“[6].

 

Zu Beginn der Grundgesetzberatungen im Parlamentarischen Rat deutete sich bei den Gegnern des Präsidentenamts eine Verschiebung an: An Stelle des dreiköpfigen Präsidiums sollte nun der Präsident des Bundestages allein die Aufgaben des Staatsoberhaupts übernehmen[7]. Dieser Positionswechsel entsprach dem Gedanken der sozialen Mehrheitsdemokratie, den vor allem die Sozialdemokratie als Leitlinie für ihre Verfassungspolitik betrachtete. Da ihre sozial- und wirtschaftspolitischen Reformziele nur auf dem Wege der parlamentarischen Gesetzgebung zu erreichen waren, trat sie für einen breiten Spielraum der Parlamentsmehrheit und der parlamentarischen Regierung im Gewaltenteilungssystem des Grundgesetzes ein. Aus dieser Sicht war es folgerichtig, dem Parlamentspräsidenten auch die Aufgaben des Staatsoberhaupts zu übertragen[8]. Die Vertreter der CDU/CSU, der FDP und der Deutschen Partei sprachen sich frühzeitig für die Einrichtung des Bundespräsidenten aus und übernahmen die von der Mehrheit des Herrenchiemseekonvents vorgeschlagene Ausgestaltung seines Amtes. In der Eröffnungsdiskussion hielt Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident, das eindrucksvollste Plädoyer für die Aufnahme des Präsidentenamts in das Grundgesetz: Als Sprecher der FDP betonte er die Symbolkraft des Staatsoberhaupts und warnte davor, das Wort „provisorisch“ zu oft auszusprechen. Die Person und die Amtsfunktion des Bundespräsidenten könne man nicht in die „ungewisse Geschichte“ abschieben. Außerdem schlug er vor, „dass wir uns Bundesrepublik Deutschland nennen“[9]. In den Ausschussberatungen des Parlamentarischen Rates verlor die Provisoriumsthese an Bedeutung, während der föderalistische Gedanke und die Länderinteressen an Gewicht gewannen. Gleichzeitig zeichnete sich eine klare Mehrheit für die Einführung eines Bundespräsidenten ab.

 

3. Die Wahl des Bundespräsidenten

 

Bei den Beratungen zur Wahl des Bundespräsidenten spielten die Länderinteressen eine wichtige Rolle. Die Beteiligung der Bundesländer war im Prinzip unbestritten. Fraglich war nur, ob diese Beteiligung durch ihre Regierungsvertreter im Bundesrat wahrgenommen werden sollte. Die CDU/CSU-Fraktion sprach sich einstimmig für die Wahl des Präsidenten in getrennten Abstimmungen von Bundestag und Bundesrat aus. Sie übernahm damit den Mehrheitsvorschlag des Herrenchiemssee-Konvents und wollte die Einflussnahme der Landesregierungen auf die Besetzung des Präsidentenamts sichern[10]. Die FDP-Fraktion schlug statt dessen die Wahl durch einen „Nationalkonvent“ vor. Dieser sollte aus den Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates sowie aus weiteren Delegierten bestehen, die von den Landtagen nach einem Bevölkerungsschlüssel (1 Vertreter auf 150 000 Einwohner) zu wählen waren[11]. Dieses große Gremium hätte den Einfluss des Bundesrates weitgehend neutralisiert.

 

Die Sozialdemokraten rückten angesichts der Mehrheitsverhältnisse von ihrer Forderung ab, dem Bundestagspräsidenten die Aufgaben des Staatsoberhaupts zu übertragen, und näherten sich dem Vorschlag der Liberalen. Die Unionsfraktion musste nun einsehen, dass sie für die getrennte Wahl durch Bundestag und Bundesrat im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit erreichen konnte und die Einführung einer Bundesversammlung (wie der Nationalkonvent inzwischen hieß) nicht zu verhindern war. Robert Lehr (CDU) und Hans Christoph Seebohm (Deutsche Partei) schlugen deshalb vor, der von der Versammlung gewählte Bundespräsident müsse vor seiner Amtsübernahme zusätzlich eine Vertrauenserklärung des Bundesrates erhalten. Theodor Heuss entgegnete, falls man eine derartige Bestimmung in das Grundgesetz aufnehme, bleibe offen, was geschehe, falls der Bundesrat dem Präsidenten das Vertrauen verweigert. Die SPD-Abgeordneten Carlo Schmid und Otto Heinrich Greve sprachen sich nicht nur gegen die Vertrauenserklärung, sondern auch gegen die Teilnahme des Bundesrats an der Bundesversammlung aus.

 

Bei der dann folgenden Abstimmung im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates befanden sich die Unionsparteien und die Deutsche Partei mit ihren insgesamt 9 Stimmen in der Minderheit gegenüber der „momentanen Koalition“ aus SPD (8 Stimmen), FDP (2 Stimmen), Zentrumspartei (1 Stimme) und möglicherweise der KPD (1 Stimme)[12]. Zunächst wurde die Variante des Herrenchiemsee-Konvents mit der übereinstimmenden Präsidentenwahl durch Bundesrat und Bundestag mit 11 zu neun Stimmen abgelehnt. Mit dem gleichen Ergebnis scheiterte der Versuch, die Amtsübernahme des Bundespräsidenten vom Vertrauen des Bundesrats abhängig zu machen. Auch für die Aufnahme des Bundesrats in die Bundesversammlung fand sich keine Mehrheit. Mit elf zu neun Stimmen angenommen wurde zum Schluss der Abstimmungen die Formulierung des Organisationsausschusses, der die aus Bundestagsabgeordneten und Länderdelegierten paritätisch besetze Bundesversammlung vorsah und die einzelnen Wahlgänge sowie die zu beachtenden Fristen regelte. Der ergänzende Vorschlag der SPD, das Amt des Bundespräsidenten erst zu besetzen, wenn geklärt sei, wie sich die „Übertragung von mehr Souveränitätsrechten auf das deutsche Volk abspielt“, scheiterte, weil er von den liberalen Vertretern im Hauptausschuss nicht unterstützt wurde[13].

 

Die fünfjährige Amtsdauer und die anschließende einmalige Wiederwahl des Bundespräsidenten waren im November 1948 noch in einem separaten Artikel enthalten, der aus dem Entwurf des Herrenchiemsee-Konvents übernommen wurde und im Parlamentarische Rat unumstritten war. Auch in der Frage, wer den Bundespräsidenten vertreten sollte, zeichnete sich eine Lösung ab: Auf Herrenchiemsee hatte sich die Mehrheit der Konventsmitglieder an der Weimarer Reichverfassung orientiert, die den Präsidenten des Reichsgerichts mit der Stellvertretung beauftragte. Dem entsprechend sollte der Präsident des neuen Bundesverfassungsgerichts den Bundespräsidenten vertreten. Die Bedenken gegen diese Lösung ergaben sich aus der ebenfalls auf Herrenchiemsee vorgesehenen Möglichkeit, den Bundespräsidenten gegebenenfalls vor dem Bundesverfassungsgericht anzuklagen. Der Präsident des Verfassungsgerichts hätte in diesem Fall „in eigener Sache“ verhandeln müssen. Deshalb wurde bereits in den Empfehlungen des Konvents die Vertretung durch den Präsidenten des Bundesrats als Alternative genannt. Der Organisationsausschuss des Parlamentarischen Rates folgte dem Alternativvorschlag und sah die Vertretung des Bundespräsidenten durch den „Präsidenten der Länderkammer“ vor. Der Formulierungsvorschlag kam von dem Sozialdemokraten Rudolf Katz – allerdings zu einem Zeitpunkt als noch  offen war, ob die Länderkammer ein Senat oder ein Bundesrat sein würde[14].

 

4. Der Bundespräsident und die Regierungsbildung

 

Neben der Wahl des Bundespräsidenten wurde bei den Grundgesetzberatungen auch seine Rolle bei der Regierungsbildung ausführlich diskutiert. Das an keine Bedingungen geknüpfte Recht des Reichspräsidenten, den Reichskanzler zu ernennen, betrachteten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates als Voraussetzung für den Übergang zum Präsidialsystem und für die Machtergreifung Hitlers. Bereits im Herrenchiemsee-Konvent stimmte man überein, dass die Regierung in ein „möglichst enges Verhältnis zum Bundestag gebracht werden müsse“. Der Kanzler sollte vom Parlament gewählt werden. Die anschließende Ernennung durch den Bundespräsidenten wurde „als ein bloßer Formalakt“ bewertet. Der Konvent blieb jedoch auf halbem Wege stehen, weil er im Art. 87 seines Entwurfs ein aufschiebendes Veto des Präsidenten gegen den vom Bundestag „benannten“ Kanzler vorsah[15].

 

Der Organisationsausschuss des Parlamentarischen Rates beschloss nach einer etwas diffusen Diskussion, den Präsidenten „in einer aktiveren Weise“ an der Regierungsbildung zu beteiligen und steuerte damit in die entgegengesetzte Richtung. Drei Mitglieder des Ausschusses erarbeiteten einen Formulierungsvorschlag, der dem Präsidenten das Recht gab, dem Bundestag gegebenenfalls zweimal einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers zu benennen. Erst falls die Vorschläge des Präsidenten im Bundestag scheiterten, kam das Parlament selbst zum Zuge. Sollte der Bundestag nicht in der Lage sein, einen Bundeskanzler mit absoluter Mehrheit zu wählen, konnte der Bundespräsident den Kanzler auf Vorschlag des Bundesrates ernennen[16]. Dieser Entwurf zeigt, dass es bei der Regierungsbildung nicht nur um die Rechte des Präsidenten und des Bundestages ging, sondern auch die Beteiligung der Länder über den Bundesrat eine Rolle spielte. Adolf Süsterhenn begrüßte als Sprecher der CDU/CSU-Fraktion zu Beginn der Grundgesetzberatungen den Übergang der Regierungsbildung auf Präsident und Länderkammer. Hiermit werde eine „echte Legitimitätsreserve“ geschaffen[17].

 

Als sich der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates erstmals mit der Regierungsbildung befasste, zeichnete sich eine erneute Wende ab: Der mit Heinrich von Brentano (CDU), Georg August Zinn (SPD) und Thomas Dehler (FDP) besetzte Allgemeine Redaktionsausschuss legte einen Vorschlag vor, der die Mitwirkung des Präsidenten auf ein Minimum beschränkte. „Der Bundeskanzler wird vom Bundestag ohne Aussprache mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder gewählt“, heißt es hier, und sei anschließend vom Bundespräsidenten zu ernennen. Thomas Dehler begründete diese Version mit dem Argument, durch ein Vorschlagsrecht, mit dem er auch Scheitern könne, werde der Präsident „viel zu sehr in die politische Arena hinuntergezogen“. Der zweite wichtige Punkt des Vorschlages war der Verzicht auf die Mitwirkung des Bundesrates bei der Kanzlerwahl. Der Bundestag, erklärte Dehler, habe immer noch den Ausweg, einen Minderheitenkanzler zu wählen. Die „Legalitätsreserve des Bundesrats“ sei deshalb überflüssig.

 

Während Heinrich von Brentano die Argumentation Dehlers unterstützte, hielt die CDU/CSU-Fraktion  am zweimaligen Vorschlagsrecht des Präsidenten und an der „Legalitätsreserve“ des Bundesrats fest. Diese Variante der Kanzlerwahl verband auf kunstvolle Weise die Mitwirkung von Präsident, Parlament und Länderkammer und war in diesem Sinne konstitutionell-demokratisch. Die SPD-Fraktion dagegen optierte mehrheitsdemokratisch und übernahm trotz anfänglicher Bedenken ihres einflussreichen Mitglieds Rudolf Katz den Vorschlag des Redaktionsausschusses als eigenen Antrag. Falls innerhalb von 14 Tagen nach Freiwerden des Amtes keine Wahl zustande kommt, sollte sich allerdings der Bundespräsident mit einem eigenen Vorschlag einschalten. Dieser SPD-Antrag wurde im Hauptausschuss mit 12 gegen acht Stimmen, d. h. gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen[18]. Im weiteren Verlauf der Beratungen gab es neben redaktionellen Korrekturen nur eine Änderung zu Gunsten des Präsidenten: Der Allgemeine Redaktionsausschuss formulierte am 16. Dezember 1948 offenbar als Kompromiss zwischen den beiden großen Fraktionen das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten für den ersten Wahlgang. Versuche, den Bundesrat bei der Regierungsbildung erneut ins Spiel zu bringen, scheiterten im Januar 1949 am Widerstand der Sozialdemokraten und der Liberalen. Theodor Heus hielt die „Bundesratsreserve“ für falsch, weil sie das Parlament „von dem Zwang zur Entscheidung entlastet“[19]

 

5. Die Auflösung des Bundestages

 

Aufgrund der Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik war man bei den Grundgesetzberatungen bestrebt, das Recht des Präsidenten zur Parlamentsauflösung  so weit wie möglich zu begrenzen. Im Konvent von Herrenchiemsee kam man zu der übereinstimmenden Auffassung, das Parlament solle nur aufgelöst werden, wenn es sich als unfähig erweist, die Regierung zu bilden und mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Kanzler zu benennen. Falls der Bundesrat als „Legalitätsreserve“ einspringen und den Kanzler vorschlagen muss, sollte der Bundespräsident „während der ganzen Wahlperiode“ berechtigt sein, den Bundestag aufzulösen. Der Präsident hatte nach dem Entwurf des Konvents ein punktuell begrenztes Auflösungsrecht mit einem breiten zeitlichen Spielraum. Ein Alternativvorschlag aus den Reihen des Konvents sprach dem Parlament die alleinige Zuständigkeit für die Regierungsbildung zu: Falls der Bundestag einen Monat lang nicht in der Lage ist, mit Mehrheitsbeschluss einen Kanzler zu benennen, sollte er automatisch aufgelöst sein[20].

 

Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates folgte man zunächst dem Mehrheitsvorschlag des Herrenchiemsee-Konvents, nahm aber Anstoß an dem zeitlich unbegrenzten Auflösungsrecht des Präsidenten. Der Organisationsausschuss begrenzte dieses Auflösungsrecht zunächst auf drei Monate. Als sich in den Beratungen des Hauptausschusses vom 16. und 17. November 1948 der Verzicht auf die „Legalitätsreserve“ des Bundesrats bei der Kanzlerwahl durchsetzte, wurde auch das Auflösungsrecht des Präsidenten neu gefasst. Nach dem bereits geschilderten SPD-Vorschlag, der weitgehend identisch mit der Endfassung von Art. 63 ist, hat der Bundespräsident nur noch bei der Wahl eines Minderheitenkanzlers die Möglichkeit, den Bundestag aufzulösen.

 

Zur gleichen Zeit als der Hauptausschuss das Auflösungsrecht  des Bundespräsidenten bei der Wahl eines Minderheitenkanzlers formulierte, entstand im Parlamentarischen Rat der Gedanke eines zweiten Auflösungsrechts für den Präsidenten. Ausgangspunkt hierfür waren Überlegungen des dreiköpfigen Allgemeinen Redaktionsausschusses. Dort fragte man sich, was geschehen solle, falls ein Bundeskanzler seine Regierungsmehrheit verliere und nur noch im Amt bleibe, weil kein konstruktives Misstrauensvotum gegen ihn zustande komme. Thomas Dehler (FDP) erklärte vor dem Hauptausschuss, in dieser Situation bestehe eine „Dauerkrise“, die nur gelöst werden könne, wenn „die Regierung oder der Bundespräsident die Waffe der Auflösung haben“. Der Redaktionsausschuss schlug dementsprechend vor, der Bundespräsident solle den Bundestag auflösen können, falls dieser dem Bundeskanzler mit der Mehrheit seiner Mitglieder das Misstrauen ausspreche oder einer Vertrauensfrage des Kanzlers nicht mit der gleichen Mehrheit zustimme[21].

 

Dieser Vorschlag stieß auf die Bedenken der Sozialdemokraten: Rudolf Katz und Walter Menzel kritisierten, hiermit werde das destruktive Misstrauensvotum wieder eingeführt, nachdem man vorher das konstruktive Misstrauensvotum als Bedingung für die Ablösung des Bundeskanzlers festgelegt hatte. Außerdem legten die Sozialdemokraten Wert auf die Beteiligung der Regierung am Auflösungsverfahren, die nach dem Vorschlag des Redaktionsausschusses unbeteiligt blieb. Der SPD-Antrag änderte deshalb die Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses und ließ die Auflösung nur über den Weg der abgelehnten Vertrauensfrage des Bundeskanzlers zu. Dieser Antrag wurde im Hauptausschuss mit 16 zu zwei Stimmen angenommen und entsprach bereits der Endfassung des Art. 68 GG. Der Bundespräsident kann den Bundestag nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers auflösen und hat für seine Entscheidung 21 Tage Zeit[22]. Die in der Endfassung enthaltenen Fristen und das Recht des Bundestages, seine Auflösung durch die Wahl eines Bundeskanzlers mit der Mehrheit seiner Mitglieder zu verhindern, wurden aus dem Vorschlag des Redaktionsausschusses übernommen. Der Spielraum des Präsidenten ist in der Endfassung begrenzter als im Entwurf des Redaktionsausschusses. Es bleibt ihm aber ein Mitentscheidungsrecht, falls der Bundeskanzler die Auflösung des Bundestages anstrebt.

 

Der Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG ist mit der Parlamentsauflösung eng verbunden. Er versucht die Frage zu beantworten, was zu geschehen habe, wenn der Bundestag nach einer abgelehnten Vertrauensfrage nicht aufgelöst werde, aber zur Gesetzgebung wegen der Differenzen zwischen den Fraktionen nicht in der Lage sei. Obwohl die Vertreter der beiden großen Fraktionen im Parlamentarischen Rat diese Lücke im Gesetzgebungsprozess frühzeitig erkannten, kam die Endfassung des Artikels wegen der Vorbehalte gegen Notstandsregelungen erst nach langen Beratungen zustande. Die Sozialdemokraten Walter Menzel und Rudolf Katz verzichteten in ihren ersten Entwürfen auf die Mitwirkung des Bundespräsidenten beim Gesetzgebungsnotstand. Die Beteiligung des Präsidenten wurde erstmals von dem des Staatsrechtler Richard Thoma vorgeschlagen. Thoma, der im Organisationsausschuss am 3. Dezember 1948 als Sachverständiger sprach, bezeichnete die mögliche Gesetzesblockade als „eine der Situationen, wo der Bundespräsident auf den Plan treten muss“. Die Beteiligung dreier Staatsorgane (Bundeskanzler, Bundespräsident und Bundesrat als „Legalitätsreserve“) reduzierte aus seiner Sicht die Gefahr eines „abgekarteten Spiels“ wie zwischen Hindenburg und Hitler[23].

 

6. Die „Regierung auf Zeit“ als Kontrapunkt

 

Mit den Entscheidungen über die kontroversen Punkte Wahl, Regierungsbildung und Auflösung legte der Parlamentarische Rat bereits Ende November 1948 die fertige Konstruktion des Präsidentenamts vor und schuf damit einen Orientierungspunkt für den Aufbau der anderen Verfassungsorgane. Wer allerdings glaubt, mit dieser Vorentscheidung hätte der Parlamentarische Rat die Diskussion um das Staatsoberhaupt beendet, unterschätzt die taktische Finesse und den Einfallsreichtum seiner Mitglieder. Die im wesentlichen von SPD und FDP ausgehandelte Version des Präsidentenamts wurde in Frage gestellt, als die beiden FDP-Abgeordneten Max Becker und Thomas Dehler im Januar 1949 bei der zweiten Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuss vorschlugen, den Bundespräsidenten zum Regierungschef zu machen. Ihr Vorschlag vereinigte das Kanzler- mit dem Präsidentenamt und bedeutete die Einführung des präsidialen Regierungssystems mit einer Exekutive, die hinsichtlich ihrer Amtsdauer vom Parlament unabhängig war. Das vom Parlamentarischen Rat mühsam erarbeitete parlamentarische Regierungssystem wäre damit hinfällig gewesen. In den Darstellungen zur Entstehung des Grundgesetzes wird dieser Vorschlag in der Regel nur beiläufig erwähnt[24]. Es ging hierbei aber um eine grundsätzliche Frage des Verfassungsaufbaus, die seit 1946 in den westdeutschen Verfassungsdiskussionen  kontrovers diskutiert wurde. Der Begriff „Präsidialsystem“ trifft auch nicht den Kern dieser Überlegungen. Entscheidend war vielmehr, wie Max Becker im Parlamentarischen Rat betonte, die Einführung einer „Regierung auf Zeit“ als Alternative zur ablösbaren parlamentarischen Regierung[25].

 

Die Wahl einer Regierung, die für die gesamte Legislaturperiode des Landtags im Amt bleibt, wurde bereits bei den süddeutschen Verfassungsberatungen im Jahre 1946 diskutiert. Ein naheliegendes Vorbild für diese Überlegungen war die Schweiz, wo die Bundesräte von der Bundesversammlung jeweils für die Legislaturperiode des Nationalrats gewählt werden. In Württemberg-Baden sprach sich Theodor Heuss gegen das schweizerische Modell aus, weil die Fragen des Wiederaufbaus und die unsichere außenpolitische Situation ein flexibles Regierungssystem verlangten. Die „wunderbare Entwicklung“ der Schweiz sei in Deutschland nicht zu erwarten[26]. Im Entwurf für die bayerische Verfassung war zunächst eine Regierung auf Zeit vorgesehen. Diese wurde vor allem von dem damaligen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (SPD) und dem Staatsrechtler Hans Nawiasky favorisiert, die beide ihre Emigrationsjahre in der Schweiz verbracht hatten. Erst im weiteren Verlauf der Beratungen wurde der Passus hinzugefügt, der Ministerpräsident müsse zurücktreten, wenn ein „vertrauensvolles Zusammenarbeiten“ zwischen ihm und dem Landtag nicht mehr möglich sei[27]. In Nordrhein-Westfalen plädierte ein Jahr später der FDP-Abgeordnete Friedrich Middelhauve für die Einführung der Regierung auf Zeit[28].

 

Im Parlamentarischen Rat wurde das alternative Modell bereits im Oktober 1948 diskutiert. Auf Initiative der beiden FDP-Abgeordneten Max Becker und Thomas Dehler beriet der Organisationsausschuss auf zwei langen Sitzungen die Vorzüge und Nachteile der „Regierung auf Zeit“. Als Vorbilder hierfür dienten das US-amerikanische und das schweizerische Regierungssystem. Dehler berief sich außerdem mehrfach auf die bayrische Verfassung von 1946, die aus seiner Sicht eine Regierung auf Zeit festlegte. Josef Schwalber (CSU) schloss sich dieser Argumentation an und lobte die Erfolge des bayrischen Ministerpräsidenten Hans Ehard (CSU) bei der Beilegung von Regierungskrisen. Mit der Wahl eines Kanzlers oder regierenden Präsidenten für vier Jahre glaubte man die instabilen Regierungen der Weimarer Republik verhindern zu können. Eine vom Vertrauen des Parlaments abhängige Regierung werde dagegen zu häufigen Regierungsrücktritten und Neuwahlen führen. Als abschreckendes ausländisches Beispiel diente den Befürwortern der Regierung auf Zeit das Nachbarland Frankreich. In der Vierten Republik blieben die Regierungen im Durchschnitt nur ein halbes Jahr lang im Amt. Von 1945 bis zu den Grundgesetzberatungen hatte es hier bereits zehn Regierungswechsel gegeben[29]. Der Vorschlag Thomas Dehlers, den Bundeskanzler für die gesamte Legislaturperiode zu wählen, wurde jedoch im Oktober 1948 vom Organisationsausschuss zunächst mit „überwiegende(r) Mehrheit“ abgelehnt[30].

 

Die erneute Initiative vom Januar 1949 zielte auf die Einführung der „Regierung auf Zeit“ in Form des Präsidialsystems. Sie war gleichzeitig ein taktisches Angebot an die CDU/CSU-Fraktion, weil sie die Mitwirkung des Bundesrats bei der Wahl des Präsidenten vorsah. Die Unionsfraktion nahm dieses Angebot gerne an und setzte im Hauptausschuss mit elf zu neun Stimmen die Wiederaufnahme des Bundesrates in die Bundesversammlung durch. Wie die anschließende Fraktionssitzung zeigte, war die CDU/CSU aber keineswegs bereit, das mit vielen Kompromissen erarbeitete parlamentarische Regierungssystem aufzugeben[31]. Der Hauptausschuss diskutierte am 9. Februar 1949 noch einmal ausführlich über die Alternative des Präsidialsystems zur parlamentarischen Regierungsform. Der Antrag von Thomas Dehler und Max Becker, der nicht die volle Unterstützung der FDP-Fraktion gefunden hatte, wurde schließlich mit elf zu zwei Stimmen abgelehnt. Die Unionsfraktion enthielt sich bei dieser Abstimmung. Bei den interfraktionellen Gesprächen gegen Ende der Grundgesetzberatungen wurden auch die anderen Irritationen zum Amt des Bundespräsidenten wieder zurechtgerückt: Der Hauptausschuss strich zunächst die Mitwirkung des Bundesrats in der Bundesversammlung. Am 5. Mai 1949 setze er erneut den Bundesratspräsidenten als Vertreter des Bundespräsidenten ein, nachdem diese Funktion vorübergehend dem Präsidenten des Bundesverfassungsgericht zugesprochen worden war[32].

 

Ein Repräsentant mit Reservefunktion

 

Keine Verfassungskonstruktion kann so perfekt sein, dass sie keine Interpretationsfragen mehr zulässt. Obwohl der Parlamentarische Rat gegen Ende der Grundgesetzberatungen den Weg zurück zu seiner ursprünglichen Konzeption des Präsidentenamtes fand, bleiben einige Kompetenzen des Bundespräsidenten umstritten. Zu der Frage, wie weit das Prüfungsrecht des Präsidenten bei der Ausfertigung von Gesetzen geht, lässt sich aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes keine klare Regelung entnehmen. Rudolf Katz (SPD) bezeichnete zum Beispiel die Ausfertigung und Verkündung im Organisationsausschuss als eine „rein formelle Pflicht, die ganz selbstverständlich ist“. Unmittelbar danach schlug er jedoch vor, dem Präsidenten eine Monatsfrist zur „Prüfung auf Gesetzmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit“ zu setzen. Offenbar hielten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates die Beteiligung des Bundespräsidenten am Gesetzgebungsvorgang für unproblematisch. Im Dezember 1948 hatte allerdings der Allgemeine Redaktionsausschuss bereits die in die Endfassung übernommene Bestimmung formuliert, das Bundesverfassungsgericht habe über die formale und sachliche Vereinbarkeit der Gesetze mit dem Grundgesetz zu entscheiden[33]. Den Bundespräsidenten als „Vetospieler“ aufzuwerten oder ihm gar eine „Vorbeugefunktion“ zuzuschreiben wäre von der Entstehungsgeschichte her eine extensive Auslegung seiner Kompetenzen[34].

 

Ungeachtet zweier Urteile des Bundesverfassungsgerichts ist auch die Rolle des Bundespräsidenten bei der sogenannten „auflösungsgerichteten Vertrauensfrage“ noch nicht abschließend geklärt. Falls der Bundeskanzler selbst die Ablehnung seiner Vertrauensfrage herbeiführt, stellt sich die Frage, ob der Präsident dem Auflösungsantrag entsprechen muss, ihn ablehnen kann oder ablehnen muss[35]. Nach den Ausführungen des Autors von Art. 68 GG, Rudolf Katz (SPD), kann die Vertrauensfrage durchaus vom Bundeskanzler benutzt werden, um Neuwahlen zu erreichen. Der Parlamentarische Rat hätte demnach ein plebiszitäres Element ins Grundgesetz eingefügt[36]. Eine klare Lösung des Problems wäre die Trennung der „echten“ von der „auflösungsgerichteten“ Vertrauensfrage. Letztere könnte als Auflösungsbegehren des Bundeskanzlers in einem neuen Art. 68 a ins Grundgesetz aufgenommen werden[37]. Auf diese Weise würde auch die Position des Bundespräsidenten gestärkt. Er hätte bei der Parlamentsauflösung ein Mitentscheidungsrecht, das nicht nachträglich vom Verfassungsgericht konterkariert werden könnte.

 

Die Entstehungsgeschichte des Präsidentenamts erweist sich bei näherem hinsehen komplizierter als erwartet. Die Weimarer Republik war zwar der dominierende, aber nicht der einzige Bezugspunkt bei den Beratungen. Neben den unterschiedlichen Demokratievorstellungen beeinflussten die großen Themen des Parlamentarischen Rates die Entwürfe: Die Teilung Deutschlands, die Anwesenheit der Besatzungsmächte und die Interessen der Länder hinterließen ihre Spuren in den Formulierungsvorschlägen. Zum Schluss der Grundgesetzberatungen drohte das Präsidentenamt in die Kompromissfindung der beiden großen Fraktionen CDU/CSU und SPD zu geraten. Die im November 1948 gefundene und in der Entfassung des Grundgesetzes beibehaltene Lösung leistete in den folgenden Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zum Ansehen der Institution und der Amtsinhaber. Der Bundespräsident hat demnach in erster Linie repräsentative und notarielle Aufgaben. Nur in Krisensituationen des parlamentarischen Regierungssystems werden von ihm politische Entscheidungen erwartet. Das von Max Becker und Thomas Dehler vorgeschlagene Präsidialsystem zeigt andererseits, dass die im Grundgesetz festgelegte Version des Präsidentenamts keineswegs alternativlos war.


[1] Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum, bearbeitet von Wolfram Werner, München 1996, S. 231

[2] Friedrich Karl Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, Tübingen  1962 (2. Aufl.), S. 24

[3] Erhard H. M. Lange: Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhaupts 1945-1949 mit besonderer Berücksichtigung der Erörterungen im Parlamentarischen Rat (VfZ 26, 1978, S. 601- 651), S. 602 f.

[4] Der Parlamentarische Rat  1948-1949. Akten und Protokolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearbeitet von Peter Bucher, Boppard 1981,  S. 85

[5] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 9, S. 10

[6] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 2, S. 546-550

[7] Erhard H. M. Lange: Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhaupts 1945-1949 . . . S. 632 f.

[8] zu den unterschiedlichen Demokratievorstellungen im Parlamentarischen Rat: Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz, Paderborn 1998, S. 27-108

[9] Der Parlamentarische Rat , , , Bd. 9, S. 106 - 109

[10] Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, bearbeitet von Rainer Salzmann, Stuttgart 1981, S. 135

[11] Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Band 14/1, Hauptausschuss, bearbeitet von Michael F. Feldkamp, München 2009, S. 262

[12] Ob sich der KPD-Vertreter Heinz Renner an der Abstimmung beteiligte, geht aus dem Protokoll nicht eindeutig hervor

[13] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 14/1, S. 284 -295

[14] Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Band 13/1, Ausschuss für Organisation des Bundes /Ausschuss für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, bearbeitet von Edgar Büttner du Michael Wettengel, München 2002, S. 481

[15] Der Parlamentarische Rat . . . Bd.. 2, S. 294, 550 ff. und 597

[16] Der Parlamentarische Rat   . . Bd. 13/1, S. 229 und 239 ff.

[17] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 9, S. 60

[18] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 14/1, S. 70 - -74 und 105 – 108; zu den Demokratievorstellungen Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz . . . S. 27 - 108

[19] Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Band 14/2, Hauptausschuss, bearbeitet von Michael F. Feldkamp, München 2009, S. 1014 f.

[20] Der Parlamentarische Rat  . .  Bd. 2, S. 339, 537 und 619

[21] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 14/2, S. 87 f.

[22] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 14/2, S. 111 - 114

[23] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 132, S.880

[24] Michael F. Feldkamp: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2008 (2. Aufl.), S. 83 und 198

[25] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 14/2, S. 982 - 986

[26] Verfassunggebende Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946

[27] Wilhelm Hoegner: Der schwierige Außenseiter, München 1959, S. 250 f.

[28] Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz . . . S. 108 und 178 f.

[29] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 13/1, S. 137

[30] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 13/1, S. 450

[31]Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 14/2, S. 981 – 998; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat . . . S. 331 f.

[32] Der Parlamentarische Rat . . . Bd. 14/2, S. 1539,1541 – 1551 und 1802

[33] Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F. Bd. 1, Tübingen 1951, S. 673 f.

[34] hierzu Roland Lhotta: Der Bundespräsident als „Außerparlamentarische Opposition“. Überlegungen zur Gewaltenteilung und Typologisierung des parlamentarischen Regierungssystems (ZParl, Heft 1/2008, S.119 - 133) sowie Xuewu Gu: Die „Vorbeugefunktion“ des Bundespräsidenten (ZParl, Heft 3/1999, S. 761- 771)

[35] Dieter Grimm: Der Präsident darf nicht mitspielen (FAZ vom 8. Juni 2005)

[36] Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz . . . S. 200 - 202

[37] vgl. den Formulierungsvorschlag bei Karlheinz Niclauß: Auflösung oder Selbstauflösung? Anmerkungen zur Verfassungsdiskussion  nach der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers 2005 (ZParl, Heft 1/2006, S. 40 - 46)