Karlheinz Niclauß        

Der Parlamentarische Rat und das Bundesverfassungsgericht, in: Robert Chr. van Ooyen / Martin H.W. Möllers (Hrsg.): Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2015
Manuskriptfassung

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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist ein spätgeborenes Verfassungsorgan. Es trat erst im September 1951 ins Leben, nachdem der erste Deutsche Bundestag hierfür die gesetzliche Grundlage geschaffen hatte. Seine Vorgeschichte lässt sich bis auf die Paulskirchenverfassung der gescheiterten deutschen Revolution von 1848/49, auf den US-amerikanischen Supreme Court oder bis zum Reichskammergericht vor 1806 zurückverfolgen. Für die westdeutsche Diskussion über Verfassungsgerichtsbarkeit waren nach 1945 aber in erster Linie die Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik maßgebend, ergänzt durch einen Seitenblick auf den 1920 in Österreich begründeten Staatsgerichtshof[1].


In der Entstehungsgeschichte des BVerfG lassen sich drei Phasen unterscheiden: Der erste Abschnitt umfasst die Formulierung der frühen westdeutschen Landesverfassungen in den Jahren 1946/47 sowie die Beratungen des von den westdeutschen Ministerpräsidenten einberufenen vorbereitenden Verfassungskonvents, der vom 10. bis zum 23. August 1948 auf Herrenchiemsee tagte. Den zweiten Abschnitt bilden die Grundgesetzberatungen im Bonner Parlamentarischen Rat vom September 1948 bis zum Mai 1949. Als dritter und letzter Abschnitt der Entstehungsgeschichte folgten 1950/51 die Beratungen von Bundestag und Bundesrat über das Gesetz zum BVerfG sowie die Institutionalisie- rungdes Gerichts in Karlsruhe im Herbst 1951. Die Literatur zur Entstehung des BVerfG konzentriert


sich allein aus praktischen Gründen auf die letzte Phase der Entstehung, denn diese bildete die Argu- mentationsgrundlage für die noch offenen Fragen zur Organisation und zur Rolle des Gerichts. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die große Studie von Heinz Laufer zu nennen. Reinhard Schiffers legte eine ausführliche Dokumentation über die Beratungen zum Bundesver- fassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) vor, die auch Einblicke in die Grundgesetzberatungen vermittelt[2]. Die Beratungen des Parlamentarischen Rates über das BVerfG wurdenerstmals von Michael Fronz untersucht[3]. In den allgemeinen Darstellungen und Dokumentationen der Grundgesetzberatungen wird die Verfassungsgerichtsbarkeit nur zusammenfassend berücksichtig[4].

Ein Überblick zur Entstehungsgeschichte zeigt, dass die organisatorischen Fragen vor allem vom ersten Deutschen Bundestag beraten und entschieden wurden. Die Grundsatzdebatte über Verfassungs- gerichtsbarkeit und Justiz dagegen fand im Parlamentarischen Rat statt. Hier wurden die Konsequenzen aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus offen und kontrovers diskutiert. Obwohl der Parlamentarische Rat nur ein Zwischenschritt zur Konstituierung des Gerichts war, klärte er die Positionen und lehnte Alternativen zum BVerfG ab. Er stellte auf diese Weise die Weichen für die einvernehmliche Lösung zwischen Regierung und Opposition, die bei der Einrichtung des Gerichts in den Jahren 1950/51 gefunden wurde. Dass seine Diskussionen über Verfassungsgerichtsbarkeit in der Literatur eine vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit finden, ist möglicherweise auch auf die Quellenlage zurückzuführen. Die Protokolle des Hauptausschusses, wo die Debatten stattfanden, liegen im Rahmen der Aktenpublikation zum Parlamentarischen Rat noch nicht vor. 


Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht dementsprechend nicht die Genesis der im Grundgesetz vorgesehenen Kompetenzen und Verfahrensweisen des BVerfG. Die Entstehungsgeschichte der ein- schlägigen Artikel des Grundgesetzes wurde bereits mehrfach ausführlich dokumentiert
[5]. Die Frage dieses Beitrags gilt den politischen Zielvorstellungen, die sich mit der Aufnahme des BVerfG in das Grundgesetz verbanden. Von welchen Ideen über Demokratie und Gewaltenteilung ließen sich die Autoren des Grundgesetzes leiten? Welche Rolle sollte die oberste Rechtsprechung im neu zu errichtenden demokratischen Rechtsstaat spielen? Wie sollte die Justiz als „Dritte Gewalt“ in das Gewaltenteilungssystem der zweiten deutschen Republik nach Weimar eingegliedert werden? Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, kann man nur selektiv vorgehen. Man muss Detailfragen und Diskussionssituationen auswählen, anhand derer die Vorstellungen und Motive der Nachkriegspolitiker deutlich werden.

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Bei den Beratungen zum Grundgesetz konnten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates auf die entsprechenden Bestimmungen der bereits bestehenden Landesverfassungen zurückgreifen. Die dort eingerichteten Staats- oder Verfassungsgerichtshöfe haben u. a. das Recht, auf Antrag der Gerichte Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Landesverfassung zu überprüfen. Hiermit wurde bereits die unübersichtliche Rechtslage der Weimarer Republik geklärt. Das Reichsgericht hatte zwar 1925 die konkrete Normenkontrolle zugestanden, indem es jedem Richter das Recht zubilligte, auf die Anwendung eines Gesetzes zu verzichten, falls er es für verfassungswidrig hielt. Eine gesetzliche Regelung dieses Prüfungsrechts blieb jedoch in den juristischen und politischen Kontroversen stecken und kam bis zum Ende der Republik nicht mehr zu Stande[6]. Die frühen Landesverfassungsgerichte sind außerdem in der Regel für Anklagen gegen Regierungsmitglieder, für Parteiverbote sowie für die Wahlprüfung zuständig. Die Vorschläge für eine westdeutsche Verfassung sahen ebenfalls die Errichtung eines Staats- oder Verfassungsgerichtshofes vor, der zusätzlich zu den genannten Aufgaben vor allem Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern oder zwischen den Ländern entscheiden sollte. Besonders deutlich kommt das föderalistische Motiv für die Einrichtung des Verfassungsgerichts im Vorschlag des „Ellwanger Kreises“ der CDU/CSU vom 13. April 1948 zum Ausdruck. Seine Grundsätze für eine deutsche Bundesverfassung erwähnen nur die Entscheidung der föderalen Streitigkeiten als Aufgabe des Gerichts. Die sozialdemokratischen „Richtlinien für den Aufbau der deutschen Republik“ dagegen nennen die Bund-Länder-Problematik nicht explizit, sondern weisen dem zukünftigen Staatsgerichtshof alle Verfassungsstreitigkeiten und Ministeranklagen zu[7].


Organisationsformen und Kompetenzen bildeten jedoch nicht das Hauptthema der Diskussionen über Verfassungsgerichtsbarkeit in den ersten Nachkriegsjahren. Die Politiker und ihre Parteien standen vor dem Problem, wie die Justiz trotz ihrer Belastung durch ihre Rolle in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ in den demokratischen Wiederaufbau eingefügt werden konnte. Es ging um die Frage, ob man den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit garantieren und gleichzeitig die Justiz auf ihre Demokratiefähigkeit hin kontrollieren kann. Eine Lösung dieses Problems, das der Quadratur des Kreises gleicht, glaubte man in der personellen Besetzung der Verfassungsgerichte gefunden zu haben.


Die Landesverfassungen sahen dementsprechend vor, dass die Berufsrichter in den Senaten gegenüber den „Laien“ in der Minderheit blieben. In Bayern war das Verhältnis 9:10 oder 4:5, in Hessen 5:6, in Württemberg-Baden, Württemberg Hohenzollern und Rheinland-Pfalz 4:5. Lediglich das Land Baden in der französischen Besatzungszone richtete einen ausschließlich mit Berufsrichtern besetzten Staatsgerichtshof ein. Deutlich sichtbar war auch die Absicht, die nicht-richterlichen Mitglieder des Verfassungsgerichts in eine enge Verbindung zum Landtag und damit zu den politischen Parteien zu bringen. Sie konnten zwar nicht Landtagsabgeordnete sein, wurden aber zu Beginn jeder Wahlperiode neu gewählt. In der bayerischen Verfassung ist keine Inkompatibilität festgeschrieben, sodass zum Beispiel Wilhelm Laforet, der für die CSU in den Parlamentarischen Rat entsandt wurde, gleichzeitig Mitglied des Bayerischen Landtags und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes war. Die amerikanische Militärregierung sah sich allerdings während der bayerischen Verfassungsberatungen zur Intervention veranlasst und argumentierte, Mitglieder des Landtags dürften nicht im Verfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit ihrer eigenen Gesetze entscheiden. Für die Normenkontrolle ist deshalb in Bayern ein ausschließlich mit Berufsrichtern besetzter Senat zuständig[8]... Der Konvent tagte vom 10. bis 23. August auf der Herreninsel im Chiemsee und schlug u. a. die Verfassungsbeschwerde einzelner Bürger an das BVerfG vor. Als Vorbild dienten ihm hierbei nicht nur die Paulskirchenverfassung von 1848, sondern auch die bayerische Verfassung von 1946. Im Bericht des Konvents heißt es aber einschränkend, die Einführung der Verfassungsbeschwerde werde „lediglich zur Erwägung gestellt“. In der Diskussion des Konvents blieb sie umstritten, weil man Überschneidungen mit dem Verfahren der konkreten Normenkontrolle und mit Entscheidungen „anderer oberster Gerichte“ befürchtete[9]. Was die Besetzung des geplanten BVerfG betrifft, legte der Konvent bereits in seinen ersten Entwürfen die Parität zwischen Bundestag und Bundesrat fest. Beide Verfassungsorgane sollten die gleiche Zahl von Richtern wählen, und auch die Senate sollten zu gleichen Teilen mit den vom Bundestag und vom Bundesrat Gewählten besetzt sein. Unbestritten war auch die Inkompatibilität zwischen dem Richteramt am Verfassungsgericht und der Mitgliedschaft bei anderen Verfassungs- organen des Bundes und der Länder.


Während die Beratungen hierüber im Stile eines Fachkongresses abliefen, kam es bei der Frage der Qualifikation der Richter zu einer politischen Kontroverse: Der zuständige Unterausschuss des Konvents sah vor, dass die Hälfte der Verfassungsrichter und der Vorsitzende Berufsrichter sein sollten. Bei den anschließenden Plenarberatungen beantragte Hans Berger – Richter am obersten Gericht der britischen Zone und eigentlich nur „Mitarbeiter“ des Konvents – die zusätzliche Bedingung, dass auch die übrigen Mitglieder des Verfassungsgerichts die Fähigkeit zum Richteramt besitzen müssen. Er begründete dies mit dem Argument, im Verfassungsgericht dürften nur Juristen sitzen, „die Rechtsfragen entscheiden und sich nicht mit politischen Erwägungen belasten“.


Diese Argumentation stieß jedoch auf Widerspruch: Josef Beyerle (CDU), Justizminister und Bevollmächtigter des Landes Württemberg-Baden, entgegnete, das Verfassungsgericht habe seine Entscheidungen nicht nur „vom staatsrechtlichen, juristischen Standpunkt aus“, sondern auch unter Berücksichtigung der politischen Verhältnisse zu treffen. Als Beispiel hierfür führte er das Verbot von Parteien an. Deshalb halte er eine gemischte Besetzung mit Berufsrichtern und „nicht zum Richteramt befähigten geeigneten Persönlichkeiten“ für richtig. Carlo Schmid (SPD), der als Bevollmächtigter Württemberg-Hohenzollerns am Konvent teilnahm, plädierte ebenfalls für das „Nichtfachrichter- element“. Er warnte vor der juristischen „déformation professionnelle“, die darin bestehe, „Dinge für Rechtsfragen zu halten, die in Wirklichkeit politische Fragen sind“. Ein Verfassungsrichter habe auch die Aufgabe, „unter Wahrung des Rechts bei der Entscheidung einen gestaltenden Akt vorzunehmen“. Die Mitwirkung „politischer Menschen“ sei hierbei nur förderlich. Der Verfassungskonvent verzichtete dementsprechend auf eine fachliche Qualifikation der Laienrichter. Hermann Brill (SPD), der Chef der hessischen Staatskanzlei, schlug vor, die Auswahl der Berufsrichter zu begrenzen, denn man könne nicht „den letzten Amtsrichter“ ins Verfassungsgericht wählen. Die richterlichen Mitglieder des Verfassungsgerichts waren deshalb nach Vorstellung des Konvents aus dem Kreis der Richter an Obersten Bundesgerichten oder an entsprechenden Gerichten der Länder zu wählen. Mit seinem Vorschlag, die Hälfte der Verfassungsrichter sollten Berufsrichter sein, entfernte sich der Konvent allerdings von den Landesverfassungen, die in der Regel eine Mehrheit der Laienrichter vorsahen[10].


Der Herrenchiemseekonvent leistete in vielen Punkten Vorarbeit für die Beratungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Parlamentarischen Rat. Die Organisation der obersten Gerichtsbarkeit blieb allerdings umstritten. Ob das Verfassungsgericht neben weiteren oberen Bundesgerichten stehen oder Teil eines einheitlichen Obersten Bundesgerichts sein sollte, war nach dem Entwurf des Konvents offen. Diese Frage und die Ergänzung des Zuständigkeitskatalogs wurden an den Parlamentarischen Rat weitergegeben. In einem gewissen Widerspruch hierzu stand die Behandlung des BVerfG in einem eigenen Abschnitt VIII des Entwurfs, getrennt von der Rechtspflege, die erst im letzten Abschnitt XII folgte. Hierdurch sollte, wie der Konvent in seinem Bericht schrieb, die Gleichberechtigung dieses höchsten Organs der dritten Gewalt gegenüber den anderen Gewalten sichtbar werden[11].

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Auf Herrenchiemsee wurden die politischen Auffassungen über die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit nur angedeutet, weil sich die Teilnehmer an die Arbeitshypothese hielten, der Konvent sei ein Gremium von Sachverständigen. Als der Parlamentarische Rat am 1. September 1948 in Bonn zusammentrat, fiel diese Selbstbeschränkung weg. In den einleitenden Grundsatzreferaten kamen deshalb bereits die unterschiedlichen Konzeptionen vom zukünftigen Verfassungs- oder Staatsgerichtshof deutlich zum Ausdruck. Der CDU-Politiker Adolf Süsterhenn und der Sozialdemokrat Walter Menzel entwickelten vor dem Plenum des Parlamentarischen Rates unterschiedliche Varianten des Demokratie- und Gewaltenteilungsverständnisses, die den weiteren Verlauf der Beratungen über das BVerfG begleiten sollten.


Süsterhenn war zu jener Zeit Justiz- und Kultusminister in Rheinland-Pfalz und hatte als Bevollmächtigter seines Landes am Konvent von Herrenchiemsee teilgenommen. In seinem Referat auf der zweiten Plenarsitzung am 8. September 1948 forderte er eine „traditionelle Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus“ und darüber hinaus die Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern. Die Notwendigkeit eines Verfassungsgerichts ergab sich für Süsterhenn zunächst aus der föderalistischen Struktur. Der Staatsgerichtshof müsse als „Hüter der Verfassung“ gegebenenfalls die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern entscheiden. Seine zweite Hauptaufgabe bestehe in der Sicherung der Grund- und Menschenrechte, die Süsterhenn naturrechtlich begründete. Er betonte deshalb vor allem die Unabhängigkeit der Justiz. Das zukünftige Verfassungsgericht solle prüfen, ob die Gesetze den „naturrechtlichen, menschenrechtlichen Grundlagen“ der Verfassung entsprechen. Ein antiparlamentarischer Unterton war in den Ausführungen Süsterhenns nicht zu überhören, denn er erklärte, „parlamentarische Diktaturen“ hätten in der Kirchen- und Schulpolitik die Gewissensfreiheit in ähnlicher Weise verletzt wie „Einmanndiktaturen“. Er zitierte hierzu auch Konrad Adenauer, der bei der Verfassungsdiskussion des Zonenbeirats der britischen Zone im November 1947 erklärt hatte: „Es gibt nicht nur eine Diktatur des Einzelnen, es kann auch eine Diktatur der parlamentarischen Mehrheit geben. Und davor wollen wir einen Schutz haben in der Form des Staatsgerichtshofes“[12].


Den Gegenpart zu Süsterhenn bestritt am folgenden Tag Walter Menzel (SPD). Er kritisierte die demokratiefeindliche Einstellung von Richtern in der Weimarer Republik und die Rolle der Justiz im „Dritten Reich“. Er schilderte außerdem mehrere Urteile aus der Nachkriegszeit, die in einem demokratischen Rechtsstaat nicht akzeptabel seien, und verwies auf den hohen Prozentsatz (76 %) von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern unter den Richtern und Staatsanwälten in der britischen Besatzungszone. Die Unabhängigkeit der Richter ergebe sich bereits aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Man müsse allerdings Garantien einrichten, damit diese Unabhängigkeit nicht wieder missbraucht werde wie in der Zeit seit 1918[13].  Obwohl beide Redner die Einrichtung eines BVerfG begrüßten, war ihre Intention doch unterschiedlich: Für Süsterhenn und weitere Mitglieder des parlamentarischen Rates verkörperte dieses Gericht die Spitze der Judikative. Es sollte als „dritte Gewalt“ die Regierung und vor allem das Parlament kontrollieren. Das Verfassungsgericht war aus dieser Sicht ein wichtiger Baustein im Machtgleichgewicht der „konstitutionellen Demokratie“. Nach den Vorstellungen Walter Menzels hatte das Gericht neben seinen Kontrollaufgaben gegenüber anderen Staatsorganen auch Kontrollaufgaben innerhalb der Justiz. Diese Kontrolle sollte durch das Wahlverfahren der Richter und durch die Berufung von Laienrichtern erreicht werden. Das Verfassungsgericht sollte unabhängig sein und gleichzeitig vom Parlament und den in ihm vertretenen Parteien beaufsichtigt werden. Das Konzept eines politischen Verfassungsgerichts entsprach der „sozialen Mehrheitsdemokratie“, die der Parlamentsmehrheit den Vorrang im Gewaltenteilungssystem einräumt[14].


Die unterschiedlichen Demokratie- und Verfassungsvorstellungen wurden im Parlamentarischen Rat bei den Beratungen über das BVerfG vor allem am Beispiel von drei Themenbereichen deutlich: Die Organisation des Gerichts, seine Kompetenzen und seine Stellung in der oberen Bundesgerichtsbarkeit bildeten das Hauptthema der Ausschussberatungen im Parlamentarischen Rat. Die Organisations- und Kompetenzfragen waren aber immer unlösbar verbunden mit dem zweiten Themenbereich, mit der Frage nach der personellen Besetzung des Gerichts. Als drittes kontroverses Thema kam später die Möglichkeit der Richteranklage vor dem BVerfG hinzu.

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Die Beratungen im zuständigen „Ausschuss für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege“ verliefen allerdings denkbar unglücklich. Dies hing zum Teil damit zusammen, dass sich dieser Fachausschuss erst am 12. Oktober 1948 konstituierte. Ab Mitte November trat dann noch eine dreiwöchige Beratungspause ein, weil die Mitglieder des Ausschusses mit den bereits vorliegenden Teilen des Grundgesetzes in ihren Fraktionen und im Hauptausschuss beschäftigt waren. Der Ausschuss beschäftigte sich außerdem viel zu ausführlich mit den weitreichenden Vorstellungen des Abgeordneten Walter Strauß (CDU) zur Neuorganisation der Gerichtsbarkeit. Nach dessen Entwurf präsentierte sich die Gerichtsbarkeit als eine große Pyramide, an deren Spitze das Oberste Bundesgericht die Rechtsprechung der Fach- und Landesgerichte zusammenführen sollte. Das BVerfG dagegen war nach den Vorstellungen von Strauß nicht Teil der Pyramide, weil es gemischt zusammengesetzt sei, d. h. sowohl aus Berufsrichtern als auch „aus Persönlichkeiten, die vom Parlament gewählt werden“ bestehe. Ein solches Gericht werde „etwas in der Luft schweben“ und selten zum Zuge kommen. Die subalterne Stellung des Verfassungsgerichts wurde hier mit seiner Zusammensetzung begründet. Das Laienelement, auf das man bei den Landesverfassungen noch großen Wert legte, diente als Argument zur Begrenzung seiner Kompetenzen. Vor allem der wichtige Bereich der Normenkontrolle, d. h. die Überprüfung von Gesetzen auf ihre Übereinstimmung mit dem Grundgesetz, sollte nach Strauß ausschließlich dem mit Berufsrichtern besetzten Obersten Bundesgericht vorbehalten bleiben. Seine Konstruktion beruhte auf einer strikten Trennung der Bereiche Recht und Politik, die den zeitgeschichtlichen Kontext unberücksichtigt ließ. Mit der Judikative als einem freistehenden Bauwerk entsprach sie dem Verfassungskonzept der „konstitutionellen Demokratie“.


Auf Bedenken stießen die Überlegungen von Strauß vor allem bei den sozialdemokratischen Mitgliedern des Ausschusses für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege. Der SPD-Abgeordnete Friedrich Wilhelm Wagner bemerkte, das Konzept laufe auf eine „große Justizreform“ hinaus. Diese Aufgabe könne der Parlamentarische Rat aber allein aus zeitlichen Gründen nicht lösen. Auch den Vertretern der CDU/CSU schienen die Reformüberlegungen ihres Fraktionskollegen angesichts der damit verbundenen Beschränkung der Revisionsmöglichkeiten abenteuerlich zu sein. Ernst Wirmer (CDU) warf ein: „... wir machen ja eine Staatsverfassung und nicht eine Gerichtsverfassung“[15]. Das einzige Ergebnis der ausufernden Diskussion im Ausschuss waren zwei in sich widersprüchliche Entscheidungen: Am 10. November 1948 entschied man, das BVerfG in organisatorischer Hinsicht vom Obersten Bundesgericht zu trennen. Am 6. Dezember beschloss der Ausschuss, den Abschnitt „Das Bundesverfassungsgericht“ des Herrenchiemsee-Entwurfs aufzulösen und in den Abschnitt „Gerichtsbarkeit und Rechtspflege“ zu integrieren. Laufer weist in seiner Studie darauf hin, dass das BVerfG hiermit deutlich abgewertet wurde. Wenn die Autoren des Grundgesetzes dem Konvent von Herrenchiemsee gefolgt wären, hätten sie dem Gericht die späteren Auseinandersetzungen über seinen Status und seine Gleichberechtigung unter den Verfassungsorganen erspart[16].


Neue Impulse erhielten die Beratungen über das BVerfG erst Anfang Dezember auf Initiative des Allgemeinen Redaktionsausschusses. In der Besetzung mit August Zinn (SPD), Walter Strauß (CDU) und Thomas Dehler (FDP) legte dieser einen Formulierungsentwurf vor, der im Ausschuss für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege am 6. und 7. Dezember beraten wurde und anschließend an den Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates ging. Hier fanden die entscheidenden Debatten über die Bestimmungen des Grundgesetzes zur Verfassungsgerichtsbarkeit statt. Im Mittelpunkt der Diskussion stand das Recht des BVerfG, Bundes- und Landesrecht sowie Regeln des Völkerrechts auf ihre Übereinstimmung mit dem Grundgesetz zu prüfen. Für dieses Prüfungsrecht beantragte Strauß namens der CDU /CSU-Fraktion die Zuständigkeit des geplanten Obersten Bundesgerichts. Seine Begründung folgte der bereits im Ausschuss vorgetragenen konstitutionell-demokratischen Argumentation: Das richtige Gericht zur Überprüfung von Normen sei ein aus Fachrichtern bestehendes Kollegium und nicht ein Gericht, das „gemischt zusammengesetzt“ ist. Hierbei handele es sich um die unmittelbare Anwendung richterlicher Gewalt, über die in der „reinen Rechtssphäre“ entschieden werden müsse.


August Zinn (SPD) entgegnete, hier gehe es um Rechtsfragen von ganz besonderer politischer Bedeutung nicht nur im Bereich der Innen‑, sondern auch der Außenpolitik. Man werde deshalb nicht ohne die Mitwirkung von Beisitzern auskommen, die in der Lage sind, auch die politische Bedeutung entsprechender Entscheidungen beurteilen zu können. Die Anträge der CDU/CSU wurden anschließend abgelehnt – angesichts der im Protokoll angegebenen Zahlen offenbar auch von den Vertretern der FDP. Strauß wiederholte in der zweiten Lesung des Hauptausschusses seine Anträge, die richterliche Prüfung von Gesetzen und Völkerrechtsnormen dem Obersten Bundesgericht zu übertragen. Mit 14 zu 5 Stimmen fiel die Ablehnung noch deutlicher aus als in der ersten Lesung. Der verspätete Versuch des CDU-Abgeordneten von Mangoldt, die Zuständigkeiten (Ziffer 3, 3a und 4 des Entwurfs) zu streichen und den oberen Bundesgerichten zu überlassen, kam nicht mehr zur Abstimmung[17] . Parallel zu dieser Zuständigkeitsentscheidung wurde auch eine Prestigefrage im Sinne des BVerfG entschieden. Bei der Aufzählung der Gerichte im späteren Art. 92 des Grundgesetzes stand lange Zeit das Oberste Bundesgericht an erster Stelle. Carlo Schmid (SPD) schlug bereits in der ersten Lesung des Hauptausschusses vergeblich vor, das BVerfG an erster Stelle zu nennen, weil ihm „eine höhere Dignität“ zukomme als dem Oberen Bundesgericht. Der Ausschuss für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege folgte diesem Vorschlag am 11. Januar und stellte die Reihenfolge zu Gunsten des BVerfG um[18].

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Die Frage nach der Besetzung des BVerfG stand im Parlamentarischen Rat lange Zeit im Schatten des Organisationsstreits. Ursprünglich herrschte im zuständigen Ausschuss die Vorstellung vor, die politischen Verfassungsfragen sollten von einem besonderen Senat des Obersten Bundesgerichts unter Mitwirkung von Laienrichtern entschieden werden. Mit der organisatorischen Trennung von Oberstem Bundesgericht und Verfassungsgericht kam die Personalfrage wieder auf die Tagesordnung des Parlamentarischen Rates, wurde aber nicht mit der gleichen Intensität diskutiert wie auf Herrenchiemsee. Bei der ersten Lesung im Hauptausschuss stellte Walter Strauß für die CDU/CSU den Antrag, die Beisitzer dürften die Zahl der Berufsrichter höchstens um einen überschreiten. Walter Menzel (SPD) stimmte zunächst zu und schlug ein Verhältnis von 4:5 zu Gunsten der nichtrichterlichen Mitglieder des Verfassungsgerichts vor. Der Ausschuss für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege hatte allerdings bereits zwei Tage vorher auf den Passus über die Zahl der Beisitzer verzichtet und dies dem Ausführungsgesetz zum BVerfG überlassen[19]. Diese Lösung setzte sich bei den weiteren Beratungen ohne Diskussion durch. Das Grundgesetz unterscheidet sich in diesem Punkt vom Entwurf von Herrenchiemsee, der vorsah, dass die Hälfte der Richter Berufsrichter sein sollten.


Die Beratungen über die Besetzung des BVerfG verliefen offenbar auch ohne größere Auseinandersetzung, weil der Parlamentarische Rat inzwischen eine andere Personalfrage heftig diskutierte. Bereits bei der einleitenden Generaldebatte des Plenums kündigten die Sozialdemokraten eine Verfassungsbestimmung an, die vom Konvent auf Herrenchiemsee noch nicht beraten wurde. Carlo Schmid sprach sich für die Gewaltenteilung aus, fügte aber einschränkend hinzu, man müsse auch mit der Möglichkeit rechnen, dass die richterliche Gewalt wie zur Zeit der Weimarer Republik missbraucht werde. Walter Menzel zitierte mehrere Urteile aus der Nachkriegszeit und konkretisierte die Überlegungen Schmids. Er schlug vor, Richter, die gegen den Geist der Verfassung verstoßen, vor dem Verfassungsgericht zur Verantwortung zu ziehen[20].


Die Überlegungen von Schmid und Menzel orientierten sich an Bestimmungen der damals gültigen Landesverfassungen über die Amtsenthebung von Richtern. In den inzwischen zu Baden-Württemberg vereinigten Ländern Württemberg-Baden und Baden war hierfür ein Dienststrafhof zuständig, der mehrheitlich aus Mitgliedern des Landtags bestand und jeweils zu Beginn der Legislaturperiode gewählt wurde. Die Möglichkeit einer Anklage war auch gegeben, falls ein Richter „außerdienstlich“ gegen den Geist der Verfassung verstößt. In Hessen kann der Staatsgerichtshof einen Richter auf Antrag des Landtages in ein anderes Amt oder in den Ruhestand versetzen oder entlassen, falls er sein Richteramt nicht „im Geiste der Demokratie und des sozialen Verständnisses“ ausübt. In Rheinland-Pfalz kann der Ministerpräsident den Generalstaatsanwalt anweisen, einen Richter, der innerhalb oder außerhalb seines Amtes gegen die Grundsätze des Verfassung verstößt, vor dem Verfassungsgericht anzuklagen[21].


Im Ausschuss für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege legte August Zinn (SPD), der gleichzeitig Justizminister in Hessen war, Anfang November 1948 einen Formulierungsentwurf vor, der dem Text der hessischen Verfassung entsprach. Er sah sowohl die Anklage von Bundesrichtern vor dem BVerfG als auch die von Landesrichtern vor den Landesverfassungsgerichten vor. Die Diskussion hierüber fand aber im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates statt. Für die Möglichkeit der Amtsenthebung traten hier vor allem die Sozialdemokraten Otto Heinrich Greve, Carlo Schmid und Elisabeth Selbert ein. Schmid argumentierte, neben der Unabhängigkeit der Richter müsse auch „der Schutz des Volkes gegenüber einem Missbrauch der Unabhängigkeit“ gewährleistet sein. Es genüge nicht, dass ein Richter „formaldemokratisch urteilt“. Sein Urteil müsse auch den „Wertmaßstäben, die den Kern der Demokratie ausmachen“, entsprechen. Die Amtsenthebung (Versetzung, Pensionierung oder Entlassung) sei „weitgehend eine politische Entscheidung“ und könne deshalb nur vom BVerfG ausgesprochen werden. Elisabeth Selbert betonte, bei diesem Verfahren handele es sich um eine Anklage „ohne strafrechtliche Normen“. Es gehe vielmehr um die Einstellung des Richters zum demokratischen Staat sowie zu den Grundrechten der Menschenwürde und der Freiheit. Sie kenne Richter, die tadellose Juristen sind, aber „den Geist des neuen demokratischen Staates niemals verstehen werden und daher ohne Schuld unfähig sind, in diesem Geist Recht zu sprechen“.


Die Begründung verdeutlichte, dass es sich bei dem Amtsenthebungsverfahren um eine politische Kontrollmaßnahme im Sinne der sozialen Mehrheitsdemokratie handelte. Sie sollte vom BVerfG ausgeübt werden, weil dieses Gericht vom Parlament (Bundestag und Bundesrat) zu wählen und zumindest zum Teil mit Politikern zu besetzen war. Die konstitutionell-demokratischen Gegenargumente wurden in drei Varianten vorgetragen: Der CSU-Abgeordnete Wilhelm Laforet wandte sich gegen die Einbeziehung der Landesrichter, weil der Parlamentarische Rat hiermit in die Justizhoheit der Länder eingreife. Die FDP-Vertreter Max Becker und Thomas Dehler wollten eine Richteranklage nur vor einem Disziplinargericht, nicht jedoch vor dem BVerfG zulassen, weil dieses teilweise „auf parteipolitischer Grundlage“ zusammengesetzt sei. Sie forderten außerdem als Voraussetzung für Sanktionen, dass ein vorsätzlicher Verstoß des Richters gegen die Verfassung vorliegen müsse. Carlo Schmid entgegnete, im Falle des Vorsatzes liege ohnehin schon Rechtsbeugung vor und ein Disziplinargericht sei abzulehnen, „weil hier der Richterstand allein über sich selber zu Gericht“ sitze[22].


Der Hauptausschuss konnte in der kontroversen Frage der Richteranklage zu keiner Einigung kommen und überließ die Lösung, wie auch bei anderen wichtigen Verfassungsfragen, den interfraktionellen Gesprächen. Im „Fünferausschuss“ kamen die Fraktionen des Parlamentarischen Rates zunächst überein, die Entlassung eines Bundesrichters nur bei einem „vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Verstoß“ zuzulassen. Für die Versetzung in den Ruhestand oder in ein anderes Amt sollte diese Einschränkung des Tatbestandes nicht gelten. Nachdem der Hauptausschuss dieser Fassung zugestimmt hatte, erhoben die Militärgouverneure in ihrem Memorandum vom 2. März 1949 Einwände gegen die Formulierung der Richteranklage. Sie hatten offenbar die Sorge, Regierungsmitglieder in Bund und Ländern könnten mit Hilfe der vom Bundesrat gewählten Mitglieder des BVerfG ein Amtsenthebungsverfahren gegen einen unbotmäßigen Richter betreiben. Der britische Verbindungsoffizier Chaput de Saintonge empfahl, eine „qualified majority“ für die Verurteilung vorzuschreiben[23].


Der Fünferausschuss und der Allgemeine Redaktionsausschuss nahmen dementsprechend die Zweidrittelmehrheit in den Text auf und strichen das Antragsrecht des Bundesjustizministers. Das Amtsenthebungsverfahren kann nur noch vom Bundestag eingeleitet werden, und die Entlassung eines Richters ist an den Nachweis eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die Verfassungsordnung gebunden. Ungeachtet dieser Änderungen im konstitutionell-demokratischen Sinn beantragte die FDP mehrfach die Streichung der Richteranklage. Bei den interfraktionellen Besprechungen vom 4. Mai 1949 warnte August Zinn (SPD), von dieser Frage könne seine Partei möglicherweise ihre Zustimmung zum Grundgesetz abhängig machen[24]. Da für die Versetzung oder Pensionierung eines Bundesrichters kein individueller Schuldnachweis vorgeschrieben wurde, entsprach die Kompromisslösung zur sogenannten Richteranklage weitgehend der mehrheitsdemokratischen Zielsetzung. Die Amtsenthebung blieb weiterhin möglich, und der politische Charakter des Anklageverfahrens wurde damit gewahrt. Die Vorschrift der Zweidrittelmehrheit im BVerfG trug aber dazu bei, dass die Richteranklage eine theoretische Möglichkeit blieb. Ihre verbindliche Einführung in den Ländern scheiterte angesichts des föderalistischen Widerstands. Hierzu einigte man sich auf eine Kann-Bestimmung (Art. 98 Abs. 5 GG), die es den Ländern freistellt, für die Landesrichter eine entsprechende Regelung zu treffen. Auf Antrag von August Zinn (SPD) fügte der Hauptausschuss hinzu, dass das BVerfG auch für die Anklage gegen Landesrichter zuständig ist[25].

6

Die große Leistung des Parlamentarischen Rates bestand darin, die Autonomie der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sichern. Während der Grundgesetzberatungen drohte die Gefahr, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit vom geplanten Obersten Bundesgericht vereinnahmt wurde. Damit verbunden war eine Beschneidung ihrer Kompetenzen und eine „unpolitische“ Besetzung der für Verfassungsfragen zuständigen Senate. Die Option des Parlamentarischen Rates für ein eigenständiges BVerfG war so deutlich, dass seine Mitglieder Otto Heinrich Greve (SPD) und Paul de Chapeaurouge (CDU) gegen Ende der Beratungen übereinstimmend erklärten, das Oberste Bundesgericht könne „als begraben angesehen werden“. Man müsse von dem Gedanken an seine Einführung „im Augenblick ... Abschied nehmen“[26]. Ein zweites Resultat der Grundgesetzberatungen war das Offenhalten der Personalia des BVerfG. Vorgeschrieben wurde nur die paritätische Besetzung mit vom Bundestag und Bundesrat gewählten Richtern. Das Zahlenverhältnis von Berufsrichtern und „anderen Mitgliedern“ blieb offen. Eine Qualifikation für die „anderen Mitglieder“ wurde nicht festgelegt. Bemerkenswert ist, dass der Parlamentarische Rat die Einführung einer Verfassungsbeschwerde aus dem Entwurf von Herrenchiemsee nicht übernahm. Walter Strauß (CDU) legte zwar im November 1948 hierzu einen Formulierungsvorschlag vor, der aber zurückgestellt und später offenbar vergessen wurde[27].


Im Unterschied zu den Beratungen über die föderalistische Struktur des Grundgesetzes gab es im Bereich der Judikative keine Annäherung zwischen den Fraktionen der SPD und FDP. Für die Konstellation im Parlamentarischen Rat zu den Fragen der Richterwahl, der Richteranklage und der Besetzung des Verfassungsgerichts ist vielmehr bezeichnend, dass die konstitutionell‑demokratische Konzeption in erster Linie von der FDP vertreten wurde. In der CDU/CSU‑Fraktion, deren Haltung nicht immer einheitlich war, gab es Berührungspunkte mit der sozialdemokratischen Zielsetzung. Eine Kooperation kam jedoch nur im Bereich der Bundesgerichtsbarkeit zu Stande. Auch die hier nicht behandelte Diskussion über die Wahl der Richter an den Bundesgerichten zeigte, dass der Versuch, die Landesgerichtsbarkeit im Sinne mehrheitsdemokratischer Vorstellungen zu beeinflussen, erfolglos blieb[28].


Die Beratungen über das Gesetz zum BVerfG fanden 1950/51 unter veränderten Bedingungen statt. Das Diskussionsklima hatte sich im Vergleich zum Parlamentarischen Rat gewandelt. Die Auseinandersetzung mit der Rolle der Justiz in der Zeit vor 1945 war inzwischen in den Hintergrund getreten, und der politische Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde von den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie nicht mehr so stark betont wie in den ersten Nachkriegsjahren. Die SPD hatte als größte Oppositionspartei an einer schnellen Einrichtung des BVerfG großes Interesse und legte zum Jahresende 1949 einen Gesetzentwurf vor. Trotzdem standen sich zu Beginn der Beratungen über das Gesetz zum Bundesverfassungsgericht die ursprünglichen Positionen gegenüber: Die Regierungsparteien traten zum Beispiel für eine paritätische Besetzung des Gerichts mit Bundesrichtern und „anderen Mitgliedern“ ein. Letztere sollten zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst befähigt sein. Die Sozialdemokraten lehnten diese Bedingung ab und schlugen außerdem die Wahl der nichtrichterlichen Mitglieder für die Dauer der Wahlperiode des Bundestages vor. Ein Teil der Bundesrichter sollte nach dem Regierungsvorschlag auf Lebenszeit ernannt werden. Die SPD strebte für alle Richter eine kürzere Amtszeit an.


Regierung und Opposition wollten allerdings ein „Majoritätsgesetz“ zum BVerfG vermeiden. Die Fraktionen bildeten deshalb einen aus fünf Bundestagsabgeordneten bestehenden Unterausschuss. Hier gelang es nach intensiven Beratungen, die zahlreichen Meinungsverschiedenheiten zu einem Kompromiss zu verbinden. Der politische Charakter des BVerfG blieb auf Grund des Wahlverfahrens seiner Richter und der Mehrheit der nichtrichterlichen Mitglieder in den Senaten bestehen. Während die Regierungsfraktionen die juristische Ausbildung als Qualifikation für alle Mitglieder des Gerichts durchsetzten, erreichten die Sozialdemokraten, dass der Bundestag „seine“ Richter durch einen Wahlmännerausschuss bestimmt. Die Verfassungsbeschwerde wurde auf Initiative der SPD in das Gesetz aufgenommen und durch ein Antragsrecht für Gemeinden ergänzt. Am 1. Februar 1951 beschloss der Deutsche Bundestag das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der KPD.


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[1]      Wesel, Uwe: Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2004, S. 26-29.

[2]      Laufer, Heinz: Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß. Studien zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1968, insbes. S. 278-315; Schiffers, Reinhard                     (Bearb.): Grundlegung  der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, Düsseldorf 1984.

[3]      Fronz, Michael: Das Bundesverfassungsgericht im politischen System der BRD – eine Analyse der Beratungen im Parlamentarischen Rat, in: Sozialwissenschaftliches Jahrbuch für Politik                     Bd. 2, München-Wien  1971, S. 629-682.

[4]      Feldkamp, Michael F.: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 1998, S. 75 f.

[5]      Jahrbuch des öffentlichen Rechts, neue Folge Bd. 1, Tübingen 1951 sowie die juristischen Kommentare.

[6]     Wehler, Wolfgang: Der Staatsgerichtshof für das deutsche Reich. Die politische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zeit der Weimarer Republik (Diss. Bonn 1979),                                      S. 100-124.

[7]      Feldkamp, Michael F. (Hg.): Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Eine Dokumentation, Stuttgart 1999, S. 45-53.

[8]      Ministerpräsident Dr. Ehard, Bayerische Verfassungsgebende Landesversammlung, 10. Sitzung v. 26.10.1946; Hoegner, Wilhelm: Der schwierige Außenseiter, Hof 1975 (2. Aufl.), S. 257.

[9]      Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle Bd. 2, Boppard 1988, S. 516 u. 622 (im Folgenden zitiert: PR Akten und Protokolle).

[10]    A. a. O., S. 430-438.

[11]    A. a. O., S. 554 u. 620.

[12]    Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Bd. 3, München-Wien 1982, S. 870.

[13]    PR Akten und Protokolle Bd. 9, München 1996, S. 46-68.

[14]    Zu den verfassungspolitischen Grundlagen der beiden Demokratiekonzeptionen: Niclauß, Karlheinz: Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949, Paderborn                         u. a. 1998, S. 51-72 und  88-108.

[15]    Vgl. die ausführliche Diskussion im Ausschuss am 20. und 22. Oktober 1948, in: PR Akten und Protokolle Bd. 13/II, München 2002, S. 1162-1216.

[16]    A. a. O., S. 1307 f. u. 1348 f. sowie Laufer, a. a. O. (Fn. 2), S. 57.

[17]    Parl. Rat – Hauptausschuß, 23. Sitzung am 8. Dezember 1948, S. 274 f. und 37. Sitzung am 13. Januar 1949, S. 461-463. Bei dieser Kontroverse ging es nicht nur um die Regeln des                                         Völkerrechts,wie Laufer annimmt (Laufer, a. a. O. (Fn. 2), S. 74 f.).

[18]    Parl. Rat – Hauptausschuß, 23. Sitzung am 8. Dezember 1948, S. 269; PR Akten und Protokolle Bd. 13/II, München 2002, S. 1539.

[19]    Parl. Rat – Hauptausschuß, 23. Sitzung am 8. Dezember 1948, S. 278 f.; PR Akten und Protokolle Bd. 13/II, S. 1401 f.; Laufer, a. a. O. (Fn. 2), S. 64; Fronz, a. a. O. (Fn. 3), S. 659 f.

[20]    PR Akten und Protokolle Bd. 9, München 1966, S. 78 u. 80.

[21]    Württemberg-Baden Art. 88, Baden Art. 111, Hessen Art. 127, Rheinland-Pfalz Art. 132.

[22]    Parl. Rat – Hauptausschuß, 25. Sitzung am 9. Dezember 1948, S. 297-303 sowie 37. u. 38. Sitzung am 13. Januar 1949, S. 468-480; Niclauß, a. a. O. (Fn. 14), S. 243-249.

[23]    PR Akten und Protokolle Bd. 8, Boppard 1995, S. 138 f. u. 157.

[24]    PR Akten und Protokolle Bd. 11, München 1997, S. 120 u. 263 f.

[25]    Parl. Rat – Hauptausschuß, 58. Sitzung vom 6. Mai 1949, S. 768.

[26]    PR Akten und Protokolle Bd. 13/II, S. 1520-1522.

[27]    A. a. O., S. 1318 sowie Laufer, a. a. O. (Fn. 2), S. 81 f.

[28]    Niclauß, a. a. O. (Fn. 14), S. 239-243 u. 246.