Karlheinz Niclauß: Kanzlerdemokratie, in „Staatslexikon“, Bd.3., Freiburg 2019


Manuskriptfassung

Begriff

 

Der Begriff „Kanzlerdemokratie“  bezeichnet in seiner allgemeinen Form die herausragende politische Führungsrolle des deutschen Bundeskanzlers und besagt, dass diese Führungsrolle ein typisches Merkmal des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland ist. Wir finden die Bezeichnung erstmals in der Publizistik der fünfzigerr Jahre. Sie bezog sich auf die Regierungsführung des ersten Bunndeskanzlers Konrad Adenauer (1949-1963), die mit einer bis dahin in Deutschland unbekannte Stabilität der demokratischen Regierung, mit wirtschaftlichem Wachstum und mit einer zunehmender Anerkennung der westdeutschen Bundesrepublik im Ausland verbunden war. Dolf Sternberger beschrieb bereits 1953 die Regierungpraxis Adenauers als „Kanzler-Demokratie“ und führte damit den Begriff in die Politikwissenschaft ein[1]. Der Begriff war gleichzeitig Ausdruck des wachsenden Selbsbewußtseins der Westdeutschen und ihrer Abgrenzung von der instabilen Weimarer Republik. Wenn Journalisten und Wissenschaftler von einer „Kanzlerdemokratie“ sprachen, verbanden sie hiermit allerdings nicht nur den Respekt vor der Leistung des ersten Bundeskanzlers, sondern auch Kritik: Nach Fritz René Allemann führte die Etablierung der Kanzlerdemokratie zur „Atrophie der demokratischen Instutionen“[2]. Rüdiger Altmann glaubte einen „Sieg der Regierung über das Parlament“ feststellen zu können[3]. Ihre Vorbehalte waren historisch bedingt, denn populäre Politiker in Deutschland, wie Bismarck und Hindenburg, vertraten in der Regel autoritäre Staatsvorstellungen. Adenauer stützte sich jedoch auf die Koalitionsmehrheit des gewählten Bundestages und konnte 1953 und 1957 mit seiner Kanzlerpartei CDU/CSU sogar die absolute Mehrheit erreichen. Ernst  Fraenkel bezeichnete bereits 1959 die Kanzlerdemokratie als eine Parallelerscheinung zur britischen Premierminister-Demokratie und fügte hinzu: „Das vielleicht erstaunlichste an der neudeutschen Kanzlerdemokratie ist des Erstaunen, das die Entdeckung ihrer Existenz hervorgerufen hat“[4].

 

Die Charakterisierung der Bundesrepublik als Kanzlerdemokratie blieb nach dem Rücktritt Adenauers nicht unumstritten. Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger galten als schwache Kanzler, denen das Attribut „Kanzlerdemokratie“ nicht zuerkannt wurde. In der wissenschaftlichen Diskussion dominierte zunächst die Auffassung, nur die Regierungszeit Konrad Adenauers sei als Kanzlerdemokratie anzusehen und eine Fortsetzung dieses Regierungstyps sei nicht zu erwarten. Für Anselm Doering-Manteuffel ist die Kanzlerdemokratie unlösbar mit Adenauer, seiner persönlichen Autorität und der Anfangssituation der Bundesrepublik verbunden. Jost Küpper zeigt in seiner umfangreichen Studie, dass die Führungskraft Adenauers gegen Ende seiner Regierungszeit nachließ und beschreibt die Jahre von 1959 bis 1963 als „Ende der Kanzlerdemokratie“[5]. Für Wolfgang Jäger bestanden zwar unter Willy Brandt und Helmut Schmidt noch zwei Varianten der Kanzlerdemokratie. Neue Rahmenbedingungen hätten jedoch den Spielraum des Regierungschefs nach und nach eingeengt, sodass der Begriff inzwischen „historisch überholt“ sei. In Zukunft könne der Bundeskanzler nur noch die Aufgabe eines Koordinators zwischen des Regierungsparteien wahrnehmen. Mit dem Übergang von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl sei die Bundesrepublik deshalb nicht mehr als Kanzlerdemokratie, sondern als Parteiendemokratie zu bezeichnen[6]. Nach Evelyn Schmidtke bildet die Parteiendemokratie den Gegenpol zur Kanzlerdemokratie. Während unter Adenauer die Kanzlerdemokratie dominierte, hatte demnach zur Zeit Helmut Kohls die Parteiendemokratie ein stärkeres Gewicht[7]. Die erfolgreiche Wiedervereinigungspolitik Helmut Kohls sowie die dominante Regierungsführung Gerhard Schröders und Angela Merkels haben jedoch bewirkt, dass die Bezeichung „Kanzlerdemokratie“ zur Charakterisierung des politischen Systems der Bundesrepublik inzwischen allgemein anerkannt ist.

 

Grundlagen

 

Das Grundgesetz weist dem Bundeskanzler eine dominierende Position im Regierungssystem zu: Er wird als einziges Regierungsmitglied vom Bundestag gewählt, schlägt seine Minister zur Ernennung vor und kann nur durch das konstruktive Mißtrauensvotum gestüzt werden. Er verfügt über das gut ausgestattete Bundeskanzleramt und kann durch die Verttrauensfrage seine Regierungskoalition disziplinieren oder Neuwahlen einleiten. Das im Grundgesetz angelegte Kanzlerprinzip wird allerdings nur auf der Grundlage eines entsprechenden Parteiensystems wirksam. Hierzu gehört die Bereitschaft der Parteien, Regierungen zu bilden und über einne längeren Zeitraum zu unterstützen. In der Regel besteht eine Personalunion zwischen dem Amt des Bundeskanzlers und dem Vorsitz der größten Regierungspartei. Der Bundeskanzler ist seit der Regierungszeit Konrad Adenauers in der Außenpolitik sehr engagiert. Die Gipfeldiplomatie und der Entscheidungsprozeß in der Europäischen Union erweitern nicht nur seinen Handlungsspielraum, sondern auch seine Präsenz in den Medien.

 

Die Kanzlerdemokratie zeichnete sich seit der Regierungszeit Konrad Adenauers durch den Dualismus zwischen dem Regierung- und dem Oppositionslager aus, der die jeweilige Opposition veranlaßte, den Amtsinhaber mit einemm Kanzlerkandidaten herauszufordern. Die demokratische Wahl von Abgeordneten wurde auf diese Weise mit der Wahl des Regierungschefs verknüpft. Die Kanzlerdemokratie entspricht damit der idealtypischen Herrschaftsanalyse von Max Weber, weil der charismatische Führer (Kanzler) die „freie Anerkennung durch die Beherrschten“ und damit demokratische Legitimität erreichte[8]. Hier wird deutlich, dass die Kanzlerdemokratie auf Zustimmungsmechanismen beruht, die jenseits von Verfassung und Parteiensystem liegen. Der Journalist Alfred Rapp bezeichnete bereits 1959 die beiden Bundestagswahlen von 1953 und 1957 als „eine Art Volkswahl des Bundeskanzlers“. Auf diese Weise sei das von den Grundgesetzautoren „verfehmte plebiszitäre Element“ sozusagen durch die Hintertür wieder in das politische System eingetreten[9].

 

Das Charisma der Regierungschefs und die Personalisierung der Wahlkämpfe und lassen sich auch in anderen modernen Demokratien beobachten, werden dort aber in der Regel als eine normale Erscheinung bewertet. In den USA mit ihrem Präsidialsystem waren sie von Verfassungs wegen vorgegeben. In Großbritannien stritten seit dem 19. Jahrhundert Parteiführer wie Gladstone und Disraeli um das Amt des Regierungschefs. Die britische Kabinettsregierung verwandelte sich in ein Regierung des Premierministers und unter dem Eindruck der rigorosen Führungsrolle der Premierministerin Margaret Thatscher ( 1979         bis 1990) glaubte man sogar den Übergang zu einem Präsidentialsystem feststellen zu können[10]. In Frankreich sorgte die Führungsrolle von Charles de Gaulle in der von ihm 1958 gegründeten Fünften Republik für Irritationen und löste eine Grundsatzdiskussion über personalisierte Macht in der Demokratie aus. Maurice Duverger bezeichnete die faktischen Direktwahl des Regierungschefs als Kennzeichen einer republikanische Monarchie, in der sich die Bürger ihre Könige wählen[11].

 

Systematisierung

 

Die Diskussion in der Wissenschaft und der Publizistik wurde lange Zeit von der Frage bestimmt, ob die Regierungsführung des jeweiligen Bundeskanzlers als Kanzlerdemokratie anzusehen sei. Den Bundeskanzlern Kurt Georg Kiesinger und Ludwig Ehrhard, aber auch Helmut Kohl in seiner Schwächeperiode vor die Wiedervereinigung, verweigerte man dieses Gütesiegel. Indem sie den Begriff von der Stärke oder Schwäche des jeweiligen Bundeskanzlers lösten, wiesen der Journalist Johannes Gross und der Politikwissenschaftler Peter Haungs den Weg zur Systematisierung der Kanzlerdemokratie. Demnach bestand zum Beispiel auch zur Regierungszeit Ludwig Erhards eine Kanzlerdemokratie, weil hiermit nicht der Amtsinhaber, sondern das Regierungssystem und die politische Mentalität in der Bundesrepublik bezeichnet wird[12]. Der nächste Schritt zur Systematisierung war die Identifizierung von fünf Merkmalen der Kanzlerdemokratie in der Studie von Karlheinz Niclauß. Die Durchsetzung des Kanzlerprinzips in der Regierungsorganisation, die Unterstützung des Bundeskanzlers durch die Kanzlerpartei, der Gegensatz zwischen Regierungslager und Opposition, das außenpolitische Engagement des Kanzlers sowie die mit einer starken Personalisierung verbundene Medienpräsenz sind demnach die Merkmale der Kanzlerdemokratie[13]. Anhand dieser Kriterien geling es, nicht nur die Amtsführung des erfolgreichsten Regierungschefs zu analysieren, sondern auch des Kanzlers, der mit seiner Abwahl oder mit seinem Sturz rechnen muß.

 

Neuere Entwicklungen

 

Ursprünglich ging man davon aus, dass eine Große Koalition von CDU/CSU und SPD die Bildung einer Kanzlerdemokratie ausschließt. In der ersten  Großen Koalaition unter Kurt Georg Kiesinger (1966-1969) agierte der Kanzler aufgrund seiner Koordinierungsaufgaben vorwiegend als „wandelnder Vermittlungsausschuß“. Auch der von Konrad Adenauer betonte Gegensatz zwischen Regierung und Opposition war in dieser Konstellation kaum spürbar, weil die FDP als einzige Oppositionspartei zu schwach für eine Regierungsalternative war. Die beiden Großen Koalitionen unter der Führung Angela Merkel (2005-2009 und 2013-2017) zeigten jedoch, dass die Bundeskanzlerin auch in diesem Bündnis eine dominierende Position einnehmen kann. Personalisierung, Medienpräsenz und Außenpolitik bilden inzwischen auch in der Großen Koalition gemeinsam das Fundament der Kanzlerdemokratie.

 

 



[1] Dolf Sternberger: Der Wille des Bundeskanzlers. Wo steht die deutsche Demokratie? (Die Gegenwart 8, 1953, S. 489-492, S. 491)

[2] Fritz René Allemann: Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956, S.346-352

[3] Rüdiger Altmann: Das Erbe Adenauers, Stuttgart 1960, S. 32-34

[4] Ernst Fraenkel: Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus (VfZ 8, 1960, Heft 4, S. 323-340,  S. 328)

[5] Anselm Doering-Manteuffel: Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949-1963,  Darmstadt 1983;  Jost Küpper: Die Kanzlerdemokratie. Voraussetzungen, Strukturen und Änderungen des Regierungsstils in der Ära Adenauer, Frankfurt /M. 1985

[6] Wolfgang Jäger: Von der Kanzlerdemokratie zur Koordinationsdemkratie (Zeitschrift für Politik 35, 1988, S. 15-32

[7] Evelyn Schmidtke: Der Bundeskanzler im Spannungsfeld zwischen Kanzlerdemokratie und Parteiendemokratie. Ein Vergleich der Regierungsstile Konrad Adenauers und Helmut Kohls, Marburg 2001, insbes. S. 30

[8] Max Weber: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Max Weber: Soziologie, weltgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart 1964, S. 151-166

[9] Alfred Rapp:Bonn auf der Waage, Stuttgart 1959, S. 54 ff.

[10] Michael Foley: The Rise of the British Presidency, Manchester 1993, S. 262-278

[11] Maurice Duverger: La monarchie républicaine ou comme les démocraties se donnent des rois, Paris 1974

[12] Johannes Gross: Erhards Regentschaft. Die zweite Kanzlerdemokratie (Der Monat 16, Heft 192, 1964, S. 7 ff.); Peter Haungs: Kanzlerdemokratie in der Bundesrepublik Deutschland - von Adenauer bis Kohl (Zeitschrift für Politik 33, 1968, S. 44-66, insbes. S. 61 ff.)

[13] Karlheinz Niclauß: Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, Wiesbaden 2015 (3. Aufl.), S. 63-88